Monday, July 16, 2007

Utopie unbegrenzter Skurrilität

Rolf-Peter Wille

Satire soll boshaft sein. Verspotten soll sie Torheiten, gesellschaftliche Missstände anprangern, scheinheilige Welten zerreißen und sie der Lächerlichkeit preisgeben. Ihr typisches Stilmittel ist ironisierende Übertreibung im Gewand einer naiven, scheinbar objektiven Beobachtung. Geht ihr aber beim Übertreiben die Fantasie durch, so kippt die Satire um und wirkt dann mythisch, besonders wenn das Anzuprangernde bereits in neblig nostalgischer Ferne zu verschwimmen scheint. Gullivers Reisen, ursprünglich eine beißende Satire auf die europäische und besonders die englische Gesellschaft, wird heute als abenteuerliche Fantasie gelesen. Swifts Brobdingnager und Liliputaner sind nicht mehr Spottgestalten sondern magisch mythische Wesen einer Märchenwelt.

Der Reiz der fiktiven DDR Berichte Jakob Heins, (er nennt sie bereits Mythen), ist ihr rhetorischer Drahtseilakt zwischen Satire und Mythos. Erzählte man uns, dass Erich Honecker persönlich mal einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR stellte, so würden wir herzlich lachen über diesen Witz. Hein jedoch ist ein begnadeter "Lügner": Honeckers "offizieller Antrag" ging im "Juli 1989 bei der Abteilung Inneres der Stadt Bernau" ein; "formal war das Schreiben vollkommen in Ordnung"; "es war auf dem besten in der DDR erhältlichen Schreibmaschinenpapier" mit einer "Schreibmaschine der Marke Erika" verfasst und "die Unterschrift glich exakt der Honeckers". Ohne mit der Wimper zu zucken, mit einem Pokergesicht und entwaffnender Nüchternheit, erläutert Hein die historischen Hintergründe, umwickelt sie kunstvoll mit selbstgesponnenem Garn, deutet alles außerordentlich plausibel, und am Ende? Also doch! Honecker wollte die DDR verlassen…, kaum zu glauben…

In seinen Satiren ohne bitteren Beigeschmack und Mythen ohne Pathos verwandelt der nüchterne Barde die beklemmende Idiotologie der DDR Dystopie literarisch in magische Fantasiewelten, in eine Utopie unbegrenzter Skurrilität. Alles ist möglich hier: Cannabis aus Afghanistan soll als sozialpolitisches Instrument zur Stützung des Landes eingesetzt werden, eine mechanische rote Waldameise wird für militärische Zwecke konzipiert, eine Doping Substanz, deren Erforschung staatlich subventioniert wird, führt zu einer überproportionalen Entwicklung der Schließmuskulatur. Es erscheint unglaublich, dass dies alles dem Hirn Heins entsprossen sein soll. Einiges ist einfach zu gut, um unwahr zu sein. Ich muss zugeben, dass ich dem "Koba 2000", einem quasi wertlosen Steinkohle Reststück, aufwendig verpackt und teuer verkauft als Konsumprodukt zur Förderung von Schlüsseltechnologien, bereits nachgoogelte. Dies "Produkt" erinnert mich an Kurt Kusenbergs "Nihilit". Wäre ich im Internet auf einen Koba Kohlebatzen in unbeschädigter Originalverpackung gestoßen, wer weiß, …vielleicht hätte ich ihn gekauft. Nicht alle Geschichten Heins jedoch sind derart originell. Bei einigen, wie z.B. den Baumwollfeldern Sachsen-Anhalts, fehlt zwar die Pointe, aber schmunzeln darf man doch.

Fantasie lässt sich nicht unterdrücken. Honeckers Antrag auf ständige Ausreise? Es könnte sein!




back to
Rolf-Peter Wille: My Writings